Gouverner c’est prévoir

In der Schweiz hat die Corona-Pandemie in den letzten Monaten fast 1’700 Todesopfer gefordert und viele Menschen an den Rand ihrer wirtschaftlichen Existenz gebracht oder ganz in den Konkurs getrieben. Die SP hat sich in dieser Zeit auf verschiedenen Ebenen stark für diejenigen engagiert, welche die Krise besonders stark getroffen hat und sich insbesondere für höhere Löhne für das Pflegepersonal, eine bessere soziale Absicherung für Selbständige und – letztlich erfolgreich – für einen Teil-Mieterlass von Geschäftsmieten eingesetzt.

Entgegen der weit verbreiteten Wahrnehmung hat aber nicht die gesamte Wirtschaft unter dieser Krise gelitten. Branchen wie die Pharmaindustrie, die Medizinaltechnik, der Onlinehandel oder die Versanddienste werden gestärkt aus der Krise hervorgehen; und zuvor in der Öffentlichkeit kaum bekannte Epidemiologen und Virologen haben eine enorme Aufwertung ihrer wissenschaftlichen Arbeit und ihres gesellschaftlichen Status erlebt. Krisen sind immer auch Phasen der Um- und Neuorientierung, die Gewinner und Verlierer hervorbringen, Chancen und Risiken mit sich bringen.

Die aktuelle Krise kann deshalb auch eine Chance sein, sich in einer längerfristigen Perspektive noch stärker als bisher für eine sozialere, gerechtere und ökologischere Schweiz zu engagieren – und linke Werte noch tiefer als bisher in die Gesellschaft hineinzutragen. Was wir aus der Corona-Krise lernen können, soll im Folgenden anhand von drei, für die SP traditionell wichtigen Politikfeldern deutlich gemacht werden.

Care-Arbeit in Zeiten des «social distancing»

Dass die Schweiz diese Krise bisher gut bewältigt hat, hat auch damit zu tun, dass sich die SP seit Jahrzehnten für eine allen zugängliche und qualitativ gute Gesundheitsversorgung engagiert. Im Turbokapitalismus nur noch wenig geschätzte Werte wie Solidarität oder Kooperation haben in den letzten Monaten (zumindest vordergründig) wieder an Bedeutung gewonnen. Das gut gemeinte Klatschen auf den Balkonen hilft allerdings nur wenig, wenn sich das Bild der Pflege nach dieser Krise nicht grundsätzlich verändert. Dies betrifft nicht nur bessere Arbeitsbedingungen für die Pflegenden in den Heimen und Spitälern, sondern auch eine höhere Wertschätzung der privaten (unbezahlten) Sorgearbeit in den Familien.

Zugleich sollten auch Branchen wie der Verkauf, die Reinigung oder die Logistik sowie die freiwillige Gemeinwohlarbeit (in Parteien und Vereinen) mehr Sichtbarkeit erhalten. Die SP hat inzwischen eine Solidaritätskampagne lanciert, mit der sie bessere Arbeitsbedingungen, mehr Respekt und faire Löhne für Menschen in «systemrelevanten» Berufen fordert. Mit Blick auf eine inklusive, mehr soziale Gerechtigkeit einfordernde Politik sollten wir uns aber auch bewusst machen, dass wir alle – unabhängig davon, ob wir in «systemrelevanten» Berufen arbeiten oder nicht – Wertschätzung verdient haben.

«Homeschooling», Digitalisierung und Chancengerechtigkeit in der Bildung

Das aus der Not geborene «homeschooling» hat in den letzten Wochen – einmal mehr – deutlich gemacht, dass die Bildungschancen auch in der Schweiz immer noch sehr ungleich verteilt sind. Onlineunterricht kann zwar eine Bereicherung zum bisher üblichen Präsenzunterricht sein, die dafür nötigen Kompetenzen und Infrastrukturen dürfen in den privaten Haushalten aber nicht einfach vorausgesetzt werden. Die Organisation der Kinderbetreuung stellte für viele Familien eine grosse Herausforderung dar; und insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund, aus bildungsfernen oder finanziell schwachen Familien hat die Corona-Krise die ohnehin seit Jahrzehnten bestehenden Lerngräben und Ungerechtigkeiten weiter vertieft.

Schon vor der Corona-Krise wurde mehrfach moniert, dass das Schweizer Bildungssystem ungerecht sei und die Unterschiede von Bildungsstufe zu Bildungsstufe grösser werden. Der schweizerische Wissenschaftsrat hat erst kürzlich festgehalten, bei der Chancengleichheit herrsche in Schweizer Schulen «ein unhaltbarer Zustand». Im Kreis 6 setzt sich das Gymnasium Unterstrass durch die Unterstützung von Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund oder aus sozial benachteiligten Familien seit Jahren vorbildlich für mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung ein. Die Corona-Krise hat jetzt noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig die Förderung von Ganztagesschulen und ausserschulischen Betreuungsangeboten ist. Die Verbesserung der Chancengleichheit muss auch in Zukunft ein wichtiger Teil linker Bildungs- und Sozialpolitik sein.

Wachstum oder Entschleunigung als Ausweg aus der Krise?

Durch den stark eingeschränkten Verkehr ist auch ein bleibender Eindruck davon entstanden, wie lebenswert ein etwas ruhigerer, vom Fluglärm, dem Strassenverkehr und der Luftverschmutzung weitgehend befreiter Stadtalltag sein könnte. Nach mehr als 30 Jahren neoliberaler Wirtschafts- und Verkehrspolitik ist es angebracht, das Tempo – nicht nur auf der Strasse und in der Luft – wieder etwas herunterzufahren und uns wieder stärker für mehr «Zeitwohlstand» und tiefere Arbeitszeiten anstatt für höhere Löhne einzusetzen. Als Ausweg aus der Krise sollten wir nicht – wie bisher – auf mehr Wachstum und Beschleunigung, sondern auf mehr Nachhaltigkeit und Lebensqualität bzw. einen Weg aus der modernen Wachstumsgesellschaft setzen.

Dass das 1.9-Milliarden Rettungspaket für die Schweizer Luftfahrt vom National- und Ständerat nicht an griffige soziale und ökologische Auflagen geknüpft und mit einer Mitsprache des Bundes verbunden wurde, ist skandalös. Im Gegensatz zur Corona-Krise wird die Klima-Krise nicht innerhalb weniger Jahre vorbei sein. Es wird gegen sie keinen Impfstoff geben, und sie wird uns alle betreffen. Für eine zukunftsträchtige Verkehrspolitik in der Stadt Zürich bedeutet dies, nach der gewonnen – und wegweisenden – Abstimmung zum Rosengartentunnel nun alles daran zu setzen, um im September auch die Abstimmung über die Velorouten-Initiative zu gewinnen.

Nutzen wir die Krise als Chance und setzen wir uns auch in schwierigen Zeiten dafür ein, dass die vorgeschlagenen Lösungen auf Werten basieren, für die sich die SP seit ihrer Gründung engagiert hat: eine solidarischere Gesellschaftsordnung, mehr Verteilungsgerechtigkeit, mehr soziale Sicherheit, mehr politische Partizipation und eine stärkere Demokratisierung der Wirtschaft.